50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 1

Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.

Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.

Teil 1: Wie kam es zur "Nelkenrevolution?" Was ist heute übriggeblieben?

Es war ein Donnerstag, der Portugal veränderte:
Am 25.April vor 50 Jahren endete eine Ära, in der das Land getreu dem Ausspruch des Diktators António de Oliveira Salazar orgulhosamente sós (stolz allein) vom übrigen Europa abgeschottet gelebt hatte und über dreizehn Jahre Krieg in seinen afrikanischen Kolonien führte.
Genau in diesem Zusammenhang hatte Salazars berühmt gewordener Satz seinen Ursprung: In einer Zeit, als andere Länder begonnen hatten, ihre eroberten Territorien in die Unabhängigkeit zu entlassen, kritisierte Salazar am 18.Februar 1965 in einer Rede die fehlende Unterstützung in Kolonialpolitik und Kolonialkrieg und erklärte, die portugiesischen Soldaten kämpften dann eben "stolz allein".

Der Satz wurde zum Symbol für die Isolation seines Regimes. Der Satz wurde aber auch oft als Hinweis auf die jahrhundertelange Geschichte des Landes angesehen, das mit dem Rücken zu Europa und den Augen in Richtung Meer lebt. Schließlich hatten schon seit den frühesten Tagen der jahrhundertelangen portugiesischen Monarchie die Hofchronisten von Pedro de Barcelos (1287-1357) über Fernão Lopes (1418-1459) bis hin zu Sampaio Bruno (1857-1915), der mit seiner Weltsicht großen Einfluss auf Fernando Pessoa hatte, nie über Einflüsse externer Interessen und Mächte auf die Entscheidungen der portugiesischen Herrscher berichtet.

Heute könne sich kaum noch ein junger Mensch vorstellen, wie das Leben bis vor 1974 in Portugal ausgesehen habe, als praktisch jede Familie eines ihrer Mitglieder im Krieg wusste und daheim geheimpolizeiliche Kontrolle und Zensur in allen Lebensbereichen vom Arbeitsplatz bis hin zu kulturellen Veranstaltungen herrschte, so schreibt der Historiker António Reis, der selbst zu den aktiven Mitwirkenden der Nelkenrevolution gehörte: Politische Parteien und Streiks waren verboten, Gefängnisse voll mit politischen Gefangenen, die führenden Köpfe der Opposition ins Exil vertrieben.

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Aufmarsch des paramilitärischen Freiwilligenkorps ‘Legião Portuguesa’, die 1932 zur inneren Verteidigung des ‘Estado Novo’ gebildet wurde und rasch ein Spitzelnetzwerk aufbaute, das den Geheimdiensten zuarbeitete. 


Dann brachten ausgerechnet jene Offiziere das verkrustete System zu Fall, die es bis dahin militärisch gestützt hatten. Der ursprüngliche Anlass ähnelt dabei kaum den landläufig bekannten revolutionären Szenarien: Die Berufsmilitärs befürchteten eine Kürzung staatlicher Versorgungsleistungen.
Die politische Führung des Landes unter Ministerpräsident Marcelo Caetano (nachdem Salazar im Jahr 1968 als Folge eines Sturzes eine Hirnblutung erlitten hatte, wurde sein Amt auf Caetano übertragen) brauchte dringend neue Offiziere, da die vorhandenen in den Kolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau dienten. Bereits im Jahr 1973 waren deshalb den Wehrpflichtigen bessere Aufstiegschancen versprochen worden, wenn sie ihren Dienst verlängern würden. Langgediente Berufsoffiziere sahen darin einen bevorstehenden Beförderungsstopp für sich selbst. Nicht nur landespolitische Forderungen, sondern auch die Karriere etablierter Militärs wurden heftig diskutiert.

Ein von der Zensur abgelehnter Text: Verse, gewidmet einer Gitarre. Die Zeilen besagen u.a., die Gitarre klinge wie Glocken der Kathedrale, die mit ihrem Klang um Portugal weinen und besingt die Gitarre als Freundin der Portugiesen, welche fern von daheim ihr Land beweinen.

Gut vier Monate vor dem Aufstand hatten sich Angehörige verschiedener Armee-Einheiten in Óbidos nördlich von Lissabon getroffen und vereinbart, die Forderungen ihres Berufsstandes notfalls mit einem Ultimatum an die Regierung zu verbinden: Es sollte freie Wahlen geben und zudem – das war sehr wichtig – per Volksabstimmung über die Zukunft der Kolonien entschieden werden. Überraschenderweise ging Regierungschef Caetano auf die Forderungen ein. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die über die genannten Aspekte hinausreichende allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung bereits die Offiziere angesteckt – sie verloren ihre Berührungsängste vor politischen Themen.

Munition und Ermunterung für weiterreichende Ziele lieferte zudem das Ende Februar 1974 erschienene Buch des Generals António de Spínola Portugal e o Futuro ("Portugal und die Zukunft"), in dem der Autor die Diskussion über die längst überfällige Beendigung des Krieges in den Kolonien und die Selbstverwaltung der afrikanischen Völker anregte. Selbst Offiziere, die mit den föderalen Thesen Spínolas nicht übereinstimmten, fühlten sich dennoch in ihrem Willen zur Veränderung bestätigt. Zweihundert von ihnen trafen sich und schmiedeten Pläne für die Ablösung des Regimes.

Die Titelseite der Zeitung vom 12.Mai 1974 zeigt eine Karikatur des seinerzeit beliebten Architekten, Malers und Cartoonisten João Abel Manta:
Kinder bedanken sich bei General Spínola dafür, dass er ihnen den Krieg erspart.

Am 25. April begann die Revolution mit der Besetzung der Sendestationen von Fernsehen und Radio. Revolutionäre übernahmen auch die Kontrolle von Hauptstadt-Flughafen und Armeehauptquartier. Panzerfahrzeuge sicherten die Lissabonner Unterstadt, wo sich die Bank von Portugal und fast alle Ministerien befanden. Die Regierung ahnte wohl, dass ihre Zeit unwiderruflich abgelaufen war, entsprechend unentschlossen war ihr Widerstand. Ministerpräsident Caetano flüchtete in eine Kaserne, die mitten in der Hauptstadt lag. Ihn dort festzusetzen fiel nicht schwer. Selbst regierungstreue Truppen ließen sich durch Tausende von Schaulustigen stoppen, die in den folgenden Tagen die Regierungsräume inspizierten und die Akten der Geheimpolizei kurzerhand auf die Straße kippten.
"Mit einem Mal war das alles wie fortgeblasen: die alte stockfleckige Ergebenheit, das bescheidene, abgeschabte Duldertum, der klägliche Fatalismus"; so der deutsche Autor Hans Magnus Enzensberger, der die unblutige Revolution am Tejo als "politisches Pfingstfest" beschrieb. Und die Nelkenrevolution war der Beginn einer Ära, in der in Europa weitere Diktaturen zusammenbrachen: Das griechische Obristen-Regime im Juli desselben Jahr, die Franco-Diktatur in Spanien im folgenden Jahr.

Und heute?
Schon seit Langem wird im Freundeskreis, in TV-Gesprächsrunden und anderswo ernüchtert diskutiert, was von den Zielen, Träumen und Veränderungen der Nelkenrevolution übrig geblieben sei. Und wenn gegenwärtig zur Lage der Nation zuerst Begriffe wie Krise, Politikverdrossenheit und Korruption die Diskussionen bestimmen, ist der Blick auf das halbe Jahrhundert getrübt. Auch die Wahl zur neuen Nationalversammlung am 10. März 2024 förderte nicht den Optimismus, da die Prognosen nahelegten, dass die Parlaments-Zusammensetzung schwierige Koalitions-Verhandlungen nach sich ziehen wird und Portugal am Jubiläumstag der Nelkenrevolution möglicherweise keine Regierung haben wird. "Das Bildermeer", so schrieb Enzensberger bereits 1987, "ist von selbst verschwunden".

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