Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.

Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.

Teil 12: Unterdrückung durch staatliche Zensur

Literatur, Publizistik, jede Art der Kommunikation trägt zur Formung des Denkens bei. Das gilt ebenso, wenn Zensur herrscht, die in Veröffentlichungen eingreift, sie manipuliert oder verbietet. Behördliche Überwachung und Verbote gehörten im Estado Novo zum Alltag, was in einem vier Jahrzehnte währenden Regime schließlich auch zu vorauseilender Selbstzensur führte und ebenso intellektuellen Schaden  wie auch ökonomischen anrichtete.

Die Zensur war bereits 1926 mit der Militärdiktatur eingeführt worden; im Estado Novo (1933-1974) wurde die strenge Kontrolle und Unterdrückung von Schriftstellern, Verlegern und Buchhändlern ausgeweitet. Im Jahr 1934 begann die Zensurbehörde in Zusammenarbeit mit der politischen Polizei, die Bücher in Buchhandlungen, Verlagen und bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmte, eine systematische Beschneidung des gedruckten Wortes, aber auch der bildenden Kunst, des Kinos, des Theaters sowie aller Informations-Bereiche, einschließlich Zeitungen, Radio und zeitgleich mit dem Aufkommen des Fernsehens auch dieses Mediums.


Die Zensur verteilte Zensuren: "unmoralisch, pornografisch, kommunistisch, irreligiös, subversiv, böse, asozial, verdummend, zersetzend, anarchistisch, revolutionär". Bücher, die in diese Kategorien eingeordnet wurden, hatten kaum eine Chance, einen Leser zu erreichen.

Manches wurde zensiert, weil es "zu realistisch" war

Schriften, die diesen Etiketten nicht zuzuordnen waren, konnten als "zu realistisch" abgestraft werden, was insbesondere die Strömung der neorealistischen Literatur der 1940er und 1950er Jahre traf. Schaut man auf die Praxis der Literaturzensur, so waren die Kontrolleure auf erstaunliche Weise flexibel mit ihrem Bann: Viele der eigentlich zensierten Bücher wurden dennoch genehmigt, und zwar "mit Kürzungen" oder mit dem Vermerk "gesichtet", was nichts anderes als eine Warnung war, das der betroffene Autor gerade noch einmal dem Verbot entkommen war. Andere wurden zunächst verboten, um später doch genehmigt zu werden. Selbst bei genehmigten und bereits veröffentlichten Büchern konnte der Zensor später eine erneute Prüfung veranlassen und das Buch nachträglich verbieten. In einigen Fällen wurde die Verbreitung ausländischer Bücher in der Originalausgabe genehmigt, während ihre Übersetzung verboten war. Und es gab Werke, die genehmigt wurden, solange sie "nicht auf dem Markt" durch Werbung oder Erwähnung in der Presse bekannt gemacht wurden.

Sogar Portugals Nationalepos "Lusiaden" wurde für die Diktatur missbraucht

Im Lauf von vierzig Jahren haben die Zensoren mehr als 10.000 Berichte über Bücher portugiesischer, ausländischer und übersetzter Autoren verfasst – darunter auch nationale und internationale Klassiker. Das betraf selbst das portugiesische Nationalepos Lusíadas: Obwohl das Epos des Nationaldichters Luís de Camões, die poetische Schilderung der Seefahrer ihrer Entdeckungsfahrten seit seinem Entstehen, also seit dem Jahr 1572 mit vollem Einverständnis von Staat und Kirche publiziert wurde (nicht einmal die Inquisition hatte Einwände gegen das Verswerk), beharrte der Estado Novo darauf, den Worten von Camões eine andere Lesart zu verordnen: Das Geschichtsepos wurde fortan neu interpretiert im Sinne einer heroischen Erweiterung Portugals durch Landnahme überall auf dem Globus durch die portugiesische „Rasse“. Camões Todestag, der 10.Juni war als Nationalfeiertag in den Jahren 1933 bis zur Nelkenrevolution 1974 der „Tag der Rasse“.


In der Diktatur ebenfalls zensiert: Portugals Nationalepos "Die Lusiaden"

Die "Schere im Kopf" aus Angst vor Repressalien, Folter und Mord

Die direkte und indirekte Zensur und der Repressionsapparat des Regimes hatten für Schriftsteller, Journalisten und Vertreter verwandter Berufe schwerwiegende Folgen. Durch die politische Polizei erlitten viele von ihnen psychische Gewalt ebenso wie physische: Folter, Inhaftierung bis hin zum Mord. Fast alle, die sich der herrschenden Macht widersetzten, wurden in ihrer Arbeit beschnitten, mit Verboten belegt und in ihrem Lebensumfeld eingeschränkt. Diese Atmosphäre begründete die Furcht vor einer moralischen und ideologischen Verurteilung und führte zur Selbstzensur. Der Journalist und Romancier José Ferreira, der im Jahr 1930 zu den aussichtsreichen Kandidaten für den Literaturnobelpreis zählte und viele Jahre in England und Frankreich lebte, schrieb 1945: "Was man in Portugal getan hat, ist, die Zukunft des geistigen Erbes zu rauben, das wir dem Land hinterlassen könnten." Und Buchhandlungen hatten immer weniger zu bieten, erlitten hohe finanzielle Einbußen.

Die Zensur erfasste auch Ausländer, die in Portugal lebten und arbeiteten. Ein prominentes Beispiel ist der 2012 verstorbene Curt Meyer-Clason, Übersetzer, Herausgeber und vom 1969 bis 1976 Direktor des Goethe-Instituts in Lissabon. Er berichtete, wer offiziell deutsche Kultur im Ausland vermittelte, hatte zuvor zu unterschreiben „sich jeder, auch politischer, Tätigkeit zu enthalten, die den wohlverstandenen deutschen Interessen zuwiderlaufen könnte“. Er musste sich mit der Staatsform des Gastlandes arrangieren, auch mit einer Diktatur. Die damit verbundenen Mühen hat er in „Portugiesischen Tagebüchern” aufgezeichnet.

 
Auch ausländische Autoren wurden zensiert - wie der deutsche Schriftsteller Curt Meyer-Clason, der einige Jahre Leiter des Goethe-Instuíturs in Lissabon war.


Meyer-Clason verschweigt in seinen Aufzeichnungen auch nicht, wie deutsche Kultur, wenn sie mit Engagement, Kenntnis und Zivilcourage vertreten wird, nicht nur durch die geknebelten Möglichkeiten des Gastlandes eingeengt wird, sondern auch mit dem Widerstand der eigenen Diplomaten rechnen muss.
Für Portugal sah das so aus: Aufgrund gemeinsamer NATO-Interessen unterstützte die Bundesregierung das diktatorische Land in der Verteidigung seiner Kolonien. Die deutsche Botschaft, im gleichen Gebäude wie das Goethe-Institut, wachte also aus unmittelbarer Nähe über Meyer-Clason, dem portugiesische Stellen „subversive Tätigkeit“ vorwarfen. Jedes Jahr stellte Meyer-Clason ein Programm zusammen, das „Herausforderung, Zuspruch, Anregung, Austausch und gemeinsame Kritik bedeutete und Kulturarbeit als Bewegung und Verständigungsmittel verstand. Es gelang ihm trotz allem, offiziell verbotene Autoren nach Portugal zu bringen: Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Tankred Dorst, Heinar Kipphardt und andere. So überrascht es nicht, dass das Institut zu einem Mittelpunkt des Kulturlebens in Portugal wurde.

Die Verbannung der Bücher unter Salazar

Unter der Regierung von Salazar und seinem Nachfolger im Amt des Regierungschefs, Marcelo Caetano (ab September 1968) wurden 3.300 Bücher verbannt, darunter auch ausländische: Nicht nur der Ökonomieklassiker Adam Smith ebenso wie Karl Marx und Friedrich Nietzsche standen auf dem Index. Auch Schriftsteller wie Alberto Morávia, Hans Hellmut Kirst, Anna Seghers, Guy de Maupassant, John Updike, Erich Maria Remarque, der Krimiautor Mickey Spillane, André Malraux, Françoise Sagan, Harold Robbins, André Gide, Nikolai Gogol, Fjodor. M. Dostojewski, Henry Miller, Arthur Miller, James Thurber und Peter Weiss, als er 1967 mit seinem Musical „Der Gesang des Lusitanischen Popanz“ eine Persiflage auf die portugiesische Kolonialherrschaft vorlegte.
Der portugiesische Verleger-Verband APEL und die Zeitung Público hat die beachtliche Liste der im Estado Novo verbotenen in- und ausländischen Autoren zusammengestellt – und als Hinweis darauf, dass Zensur kein Schreckgespenst der Vergangenheit ist, eine kleine Auswahl verbotener Literatur aus 50 Ländern mit dem jeweiligen Zeitraum ihres Verbots angehängt – das in einigen Staaten noch bis vor Kurzen galt oder gar bis heute fortdauert (beim Klick aufs untenstehende Bild abrufbar).


Beim Klick aufs Bild kann man eine pdf-Datei abrufen, in der die zensierten Autoren bis 25. April 1974 aufgelistet sind

Viele Literaten schrieben aus dem ausländischen Exil gegen die Zensur im Estado Novo an. Der Schriftsteller José Cardoso Pires vermerkte im Rückblick auf jene Dekaden, als er am Tag nach der Nelkenrevolution in das Gebäude der Geheimpolizei PIDE kam: “Hier stehen wir, in der leergebrannten Hölle, die unser Wissen, unser Gewissen, unser Schreiben bespitzelt, bedrängt, belastet hat seit wir denken können, die uns zu PIDE-Agenten unserer selbst gemacht hat gegen unseren Willen. (…) Mit Getöse stürzte die Kathedrale der Angst schließlich ein, fünfzig Jahre, ein halbes Jahrhundert, an einem einzigen Tag besiegt.”

Alle verbotenen Bücher waren nach dem Dia de Liberdade wieder erlaubt

In den Jahren 1975 bis 1977 wurden alle verbotenen Autoren und Werke wieder verlegt oder importiert. Buchhandlungen erlebten einen ungekannten Boom. Doch auch nach der Nelkenrevolution war die literarische Entwicklung durch ein gewisses Auf und Ab geprägt. José Cardoso Pires sagte dazu: „Die so sehnlich gewünschten Veränderungen ersparten uns aber nicht die Konfrontation mit den übernommenen Wirklichkeiten. Die Umwandlung reißt uns fort aus unserer individuellen Vergangenheit, die nie abgeschlossen ist und sich verzweifelt verteidigt.“ 

50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 1 

50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 11

50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 13

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