Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.

Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.

Teil 11: Das reale Leben in der Diktatur

Gelegentlich hört man in Portugal Sätze, die wie nostalgische Sehnsucht nach der Zeit vor der Nelkenrevolution anmuten. Diese Äußerungen kommen entweder von Personen, die diese Epoche nicht aus eigenem Erleben kennen oder Nutznießer des Systems Estado Novo waren. Wie sah die Gesellschaft vor dem 25.April 1974 tatsächlich aus? Wie war es, während der Diktatur in Portugal zu leben? (Alle Fotos aus dem Arquivo von Artur Pastor - entstanden in den 1940-60ern, auf dem Land und in den Städten)

Dieses System währte seit dem Militärputsch 1926, der die ersten demokratischen Gehversuche des Landes nach dem Sturz der Monarchie beendete; der Estado Novo, also der “neue Staat” existierte formal seit dem Beginn der 1930er Jahre: In einer Rede im Mai 1930 benutzte der spätere Machthaber António de Oliveira Salazar, der damals noch Finanzminister war, den Begriff Estado Novo erstmals. Manchen gilt Salazars Ernennung zum Minsterpräsidenten am 5. Juli 1932 als offizieller Beginn des Estado Novo, andere datieren den Beginn auf den April 1933, als die neue Verfassung in Kraft trat.
Im politischen Alltag sind zu jener Zeit noch die Nachwirkungen der republikanischen politischen Kämpfe in den letzten Tagen der Republik spürbar, was jedoch aufgrund der Überwachung des öffentlichen Lebens durch die Geheimpolizei PVDE (Polícia de Vigilância e Defesa do Estado bis 1945, ab dann PIDE - Polícia Internacional e de Defesa do Estado) öffentlich kaum noch möglich war – die Geheimpolizei war im Übrigen nach Vorbildern aus dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich gebildet worden.

 
Foto links: Viehmarkt Foto rechts: Landarbeiter im Alentejo. Fotos Arquivo Artur Pastor

 Portugal war ein armes Land, in dem etwa 50 % der Bevölkerung von der (unterentwickelten) Landwirtschaft lebten. 

Der Analphabetismus betraf in jenen Jahren über der Hälfte der Bevölkerung (Frauen konnten häufiger weder lesen noch schreiben als Männer). Und wer schreibunkundig war, durfte nicht wählen. Dabei gab es allerdings Ausnahmen für Männer, die nennenswerte Steuerbeträge zahlten. Die Säuglingssterblichkeit war sehr hoch. Familien erzählten häufig vom Unterschied zwischen der Zahl der geborenen und der noch lebenden Kinder.

Die Staatsmacht bestimmt den Alltag

Kommunikation fand in erster Linie mündlich statt, da es kaum Radios (erst ab 1938) oder Telefone gab (auch wer sich ein Telefon leisten konnte, musste bis zu drei Jahre auf den Anschluss warten). Das einzige, zumindest in den Städten verfügbare Medium war das Kino, das sich entsprechend hoher Beliebtheit erfreute und rasch zu großer Blüte gelangte. Doch auch was über die Leinwand flimmerte, unterlag der Zensur oder war Teil des Propaganda-Apprates des Estado Novo.
Das Leben auf dem Lande ohne Strom, Wasserleitungen (das Wasser wurde in Krügen aus der Quelle geholt) oder Kanalisation, elektrische Geräte oder andere Maschinen war in Portugal deutlich rückständiger und die Geräte in geringerer Zahl vorhanden als in anderen Ländern.

Den Tagesablauf fernab der Städte bestimmten Sonnenauf- und Untergang, wenn die Menschen ihre wenige Nutztiere versorgten und die meist zur Selbstversorgung bestimmten Produkte anbauten und ernteten. Die Ernährung war dennoch wenig reichhaltig: Ein im Dezember geschlachtetes, eingepökeltes Schwein musste das ganze Jahr über reichen, ergänzt durch einige Sardinen und bacalhau. An Obst gab es nur das, was von den Bäumen gepflückt wurde oder an den Spalieren hing.

Im Norden des Landes gibt es noch heute alte Häuser, deren Bauart die landwirtschaftliche Zweckmäßigkeit verdeutlichen: Das untere Stockwerk war für die Tiere, den Keller und die Scheune, das obere Stockwerk für die Familie. Während im Norden des Landes eine kleinbäuerliche Wirtschaftsweise vorherrschte und die Bauern meist Selbstversorger waren, entwickelte sich in der klimatisch begünstigten Südhälfte der Landes eine eher monetär und auf Verkauf ausgerichtete Wirtschaft: Die Arbeiter verdienten einen Tageslohn für die geleistete Arbeit, da die meisten Bauern kein eigenes Land besaßen. Monokulturen dominierten. Dennoch herrschte auch im Süden große Armut, auch wenn dort aufgrund des weniger hügeligen Geländes und der größeren Bevölkerungskonzentration mehr Einwohner durch Straßen oder Wasserleitungen versorgt wurden als im Norden.

 
Landwirtschaftliche Arbeit dominerte in Portugal Im Norden eher zur Selbstversorgung, im Süden als Arbeit für Großgrundbesitzer

Frauen und Kinder waren nützliche und billige Arbeitskräfte

Je nach Schwere der landwirtschaftlichen Arbeit waren einige Tätigkeiten Frauen vorbehalten: Sie säten Flachs, versorgten die wachsende Pflanze, ernteten sie, sponnen und webten ihn und nähten aus dem Gewebe Kleidung für die Familie. Auch die Kinder in den Dörfern halfen der Familie auf den Feldern, und zwar nicht selten schon ab dem Alter von von 6 oder 7 Jahren. Kinder ärmster Familien wurden von Land in die Stadt geschickt, um als Dienstmädchen in den Häusern Wohlhabender oder (vor allem die Jungen) in den Kolonialwarenläden arbeiteten und auch in deren Lagerräumen schliefen. Wer Glück hatte, wanderte nach Brasilien aus oder ergatterte eine Stelle in der Fabrik, bei den städtischen Verkehrsbetrieben oder bei der Nationalgarde – um in dieser paramilitärischen Polizeieinheit zu arbeiten, brauchte ein Junge keine besondere Ausbildung.

  
Frauen und auch Kinder waren als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft nicht wegzudenken. Vor allem im Alentejo galten sie als billige Hilfskräfte. (Fotos Arquivo Artug Pastor)

Das System einer sozialen Sicherheit steckte in den Anfängen: Während der Ersten Republik stützte es sich hauptsächlich auf Selbsthilfevereine. Erst 1935 wurde es systematisch auf die verschiedenen Berufe ausgedehnt, und es begannen die obligatorischen Abgaben. Dabei war die soziale Sicherung für Beamte höher, während sie für Landwirte und Selbstständige nicht existierte.

Das Leben in den Städten

Wie die Bauern lebten auch Arbeiter und Angestellte in den Städten in bescheidenen Verhältnissen, mit dem Unterschied, dass die Häuser in den Städten über mehr Annehmlichkeiten verfügten, denn sie hatten Wasser (wenn auch manchmal nur ein Waschbecken) und Strom. Da sie kein Land bewirtschafteten, mussten die Städter Lebensmittel kaufen, was sie täglich taten, da Kühlschränke selten waren. Für die Oberschicht war das Leben einfacher. Die Hausfrau war in der Regel nicht erwerbstätig und hatte ein oder mehrere Dienstmädchen, die die Hausarbeit erledigten und sich um die Kinder kümmerten. Zu jener Zeit war in dem Oberschicht-Haushalten die Gegenwart einer Amme nahezu selbstverständlich: Ärmere Frauen, die gerade selbst ein Kind bekommen hatten, stillten die Neugeborenen ihren Arbeitgeberin.

Kolonialwarenhändler in Lissabon (Foto Arquivo Artur Pastor)

Erst ab Mitte der 50er Jahre änderten sich die Lebensbedingungen merklich. Bis dahin sah man die Menschen in den Städten oft barfuß laufen. Die Regierung erließ zwar Gesetze, um dies zu verhindern, um das Image des Landes zu verbessern, das half jedoch nicht, wenn kein Geld für Schuhe vorhanden war.

 
Straßenszene in Porto (links) - Fischverkäuferin in Lissabon (rechts). Beides aus den 1940-1960er Jahren. Fotos Arquivo Artur Pastor

Ab den 1950ern wird das Leben in der Stadt angenehmer - für die Wohlhabenden

In jener Dekade kamen Kühlschränke, Gas- und Elektroherde auf; zuvor waren Herde, in denen Holz verfeuert wurde, auch in den Städten üblich. Gas und Strom hielten Einzug in den Alltag der Menschen (der Stromverbrauch hatte sich in den 1930er Jahren verdoppelt, und von 1945 bis 1965 sollte er sich verachtfachen).
1958 begann die Ära des Fernsehens in Portugal (in Deutschland 1952). Parallel dazu verloren die traditionellen Tascas und Cafés, in denen man tanzte und Dame oder Billard spielte, und die Freizeitvereine ihre Stammgäste. Das Fernsehen wurde nach und nach zu einem Grund, das Haus abends nur noch seltener zu verlassen.
Ab Anfang der 1960er Jahre kamen Autos in großer Zahl auf den Markt und zu diesem Zeitpunkt begann auch die Automontage in Portugal. Der Lebensstandard in den Städten verbesserte sich. Die Reallöhne der Arbeiter im verarbeitenden Gewerbe stiegen zwischen 1958 und 1968 jährlich um etwa vier Prozent.

Langsam wurde auch das allgemeine Bildungsniveau angehoben, die Zahl der Studenten vervielfachte sich innerhalb einer Dekade. Andererseits zog ab 1961 der beginnende Kolonialkrieg Männer ab, die für den Einsatz in Afrika rekrutiert wurden. Andere wanderten aus, vor allem nach Frankreich, an zweiter Stelle der Emigrationsziele standen Deutschland und Luxemburg. Diese Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen, nahmen viele wahr, was in besonderem Umfang dazu führte, dass die landwirtschaftliche Tätigkeit einbrach, denn eine große Zahl der Emigranten kam aus ländlichen Gebieten. 

Da mehr Männer als Frauen und mehr junge als alte Menschen auswanderten, bildeten die Frauen zusammen mit den älteren Menschen die Mehrheit der Bevölkerung in den Provinzen. Die Beziehungen zwischen den Generationen begannen, sich zu verändern. Gleichzeitig kam es zu einer Binnenwanderung in Richtung Küste, die in den 1970er Jahren zunächst abflaute.
Doch kann all dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land sich nach wie vor unter der strikten Kontrolle der Obrigkeit befand, politische Zensur herrschte und jegliche Opposition unterdrückt wurden. Mit Hilfe der Kirche, des Bildungswesens, der politischen Polizei und der Propaganda gelang es dem Regime, zumindest bis in die 1960er Jahre den Anschein eines friedlichen Miteinanders ohne gesellschaftliche Spannungen zu wahren.

Die langsamen und stillen Veränderungen, die nicht nur durch Angst und Verzweiflung angesichts der sinnlosen, verlustreichen Kolonialkrieges anbahnten, sollten schließlich ebenso zum Sturz des autoritären und repressiven Regimes des Estado Novo führen wie die Berichte der portugiesischen Emigranten in Europa, die nach und nach auch Erlebtes und Erfahrenes aus den Gesellschaften der Länder mit nach Hause brachten, in denen sie arbeiteten.

50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 1 

50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 10

 

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