Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 4: Ein unerwarteter und wertvoller Dokumentenfund
Liegt historisches Geschehen weit zurück, erschwert das Fehlen oder die ungewisse Herkunft von Schriftstücken manchmal die Klärung von Details. Das kann auch bei noch nicht so weit in der Vergangenheit liegenden Ereignissen passieren, wie das Blatt Papier belegt, dass im Jahr 2019 in privaten Unterlagen entdeckt wurde; ein Blatt Papier, auf dem Wege, Entfernungen und 30 Armee-Einheiten farblich markiert und detailliert beschrieben sind, sowie 60 Namen von Militärs, die verantwortlich waren für den Verlauf des 25. April 1974, an dem die Diktatur gestürzt wurde.
Die Karte offenbart die Vorbereitung auf jenen Tag, und ein Blick auf die Linienführung zeigt im Nachhinein, dass das Vorgehen exakt so durchgeführt wurde, wie zuvor geplant. Jedoch weiß niemand, wer diese Karte gezeichnet hat. Noch lebende Protagonisten erklärten, sie hätten die Aufzeichnung noch nie gesehen.
Vor acht Jahren ist die Zeichnung per Zufall aufgetaucht, als die Witwe von António Marques Júnior (er war 1974 das jüngste Mitglied des Revolutionsrates) in ihrem Haus in Lissabon nach einem Buch von Fidel Castro suchte, in das der kubanische Revolutionsführer eine umfangreiche Widmung geschrieben hatte. Luísa Marques Júnior hatte das Buch im Sommer 1975 erhalten, als ihr Mann und andere Generäle der Nelkenrevolution eine Reise nach Kuba unternahmen.
„Ich suchte in Antónios sämtlichen Regalen und Schränken, aber ich konnte das Buch nicht finden“, berichtet Luísa Marques Júnior. „Stattdessen fiel mir ein Umschlag in die Hände – und darin war diese Karte", die nach eingehender Prüfung durch Historiker dem Nationalarchiv Torre do Tombo übergeben wurde (auf dem zur Verfügung gestellten Bild sind die geplanten Bewegungen verzeichnet; rote Rechtecke repräsentieren große Städte; die grünen Linien entsprechen den Landesgrenzen und wurden bei der Archivierung zur Veranschaulichung für die Presse darübergelegt).
Die Nelkenrevolution vor 50 Jahren ist in allen Details immer wieder beschrieben worden, doch wie man sieht, verbirgt sich hinter dem allseits Bekannten gelegentlich noch etwas mehr, das in vielen Fällen in Vergessenheit geraten ist. Das gilt auch in anderen Bereichen der Geschichtsschreibung rund um die Nelkenrevolution: So ist zwar das bis zur Nelkenrevolution verbotene Lied Grândola, vila morena als Symbol und Hymne der Nelkenrevolution in die Annalen eingegangen, das um 00:20 Uhr zum Zeichen für den Beginn des gemeinsamen Vorgehens im gesamten Land im Programm des Radiosenders Renascença gespielt wurde.
Heute weniger beachtet ist hingegen eine andere Melodie, die knapp zwei Stunden zuvor lediglich in einer vereinbarten Einspielung im Programm einer lokalen Lissabonner Radiostation zu hören war und den Revolutionären in der Hauptstadt als Signal zum Aufbruch diente: Es war das Lied E Depois do Adeus ("Nach dem Abschied"), ein Liebeslied, dessen Worte aber durchaus mehrdeutig verstanden werden können: „Ich wollte wissen, wer ich bin, was ich hier tue, wer mich verlassen hat, wen ich vergessen habe“, sang der damals 27-jährige Paulo de Carvalho, bis heute einer der bekanntesten Sänger Portugals.
Wenige Tage zuvor hatte die europäische Musik-Gemeinde beim Grand Prix d’Eurovision Carvalhos Ballade auf den letzten Platz verbannt (und Abba mit „Waterloo“ zum Sieger gewählt). Paulo de Carvalho spielte sein Liebeslied und einige andere Balladen übrigens gemeinsam mit dem deutschen Musikprofessor Thilo Krasmann ein, der bis zu seinem Tod 2004 in Portimão lebte. Der 1933 in Bremen geborene Musiker kam 1957 nach Portugal, wo er als Orchesterleiter und Kontrabassist sehr bekannt und beliebt wurde. In Deutschland ist er unbekannt. Die kleine Gemeinde Abrunheira bei Sintra ehrte ihn in der Toponymie des Ortes mit der Rua Thilo Krasmann.
Teil 1 von "50 Jahre Nelkenrevolution - Geschichten hinter der Geschichte"
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 3
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 5