Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 3: Kuriosiäten aus dem Alltagsleben
Die Diktatur des Estado Novo umfasste nicht "nur" die Politik, sondern reichte weit hinein ins Alltagsleben und schränkte damit die persönliche Entfaltung eines jede Bürgers ein.
- Auch wenn das Land eigene gute Weine besaß – ein Vergleich dieser Tropfen mit den Erzeugnissen der Winzer aus anderen Ländern war nicht möglich, denn der heimische Markt war für ausländische Weine gesperrt. Auch andere Getränke unterlagen dem Importverbot, etwa Coca-Cola, da es mit Kokain und dem verpönten ‘American Way of Life’ assoziiert wurde.
- Barfußlaufen war ein Zeichen extremer Armut. Nach offizieller Lesart gab es solche Armut jedoch nicht. Und deswegen konnte jeder bestraft werden, wer sich barfuß auf der Straße bewegte und seine soziale Situation damit nicht verbarg.
Anmerkung am Rande: Noch in den 1990er Jahren erklärten Freunde mir, dass Touristen, die in den Badeorten ohne Schuhe durch die Straßen liefen, von älteren Portugiesen sehr ablehnend betrachtet wurden. Wer Barfüßigkeit aus der Zeit des Estado Novo kannte, sah Touristen mit nackten Füßen als Provokation an oder als ein Sich-Lustig-Machen wohlhabender Urlauber über Armut. - Rauchen Sie? Haben Sie mal Feuer? Im Estado Novo musste man, um ein Feuerzeug benutzen zu dürfen, eine Lizenz haben. Damit sollte die Streichholz-Produktion in Portugal geschützt werden. Die Erlaubnis zur Benutzung eines Feuerscheins glich beinahe einem Waffenschein.
Eine Lizenz zum Mitführen eines Feuerzeugs für das Jahr 1953. Der mit Name und Adresse des Antragstellers versehene Erlaubnisschein galt für ein Jahr und wurde vom Finanzamt ausgestellt. Dafür waren 50 Escudos Gebühr und 40 Escudos Stempelsteuer zu entrichten
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Versammlungen waren weitestgehend verboten, größere Menschenmengen konnten nur in Fußballstadien und Kirchen zusammenkommen. "Fußball, Fado und Fátima" (der Wallfahrtsort) waren die drei F, die oft als die Säulen der Diktatur bezeichnet wurden.
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Männern war es verboten, Kleidung zu tragen, die mit Frauen assoziiert wurde und umgekehrt durften auch Frauen nicht in typischer Männerkleidung erscheinen, das galt für die Privatsphäre ebenso wie für Theaterbühnen, Karneval u.ä.
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Wer heute in Portugal im Kino oder TV ausländische Filme sieht, der muss entweder die Fremdsprache verstehen oder sich mit Untertiteln begnügen – anders als vor allem in Deutschland, Österreich, Italien, Spanien und Frankreich, wo Filme synchronisiert werden. Zum Lernen einer Fremdsprache sind die Untertitel hilfreich, die Herkunft der legendas, wie sie auf Portugiesisch heißen, weist aber hierzulande in die Zeiten des Estado Novo zurück: Damals mussten Filme untertitelt und durften nicht synchronisiert werden, da Untertitel leichter zu zensieren waren, wobei unliebsame Formulierungen verfälscht oder ganz eliminiert werden konnten. Die Mehrheit der Menschen hatte nie eine Fremdsprache gelernt.
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Es war üblich, dass bei Verabredungen von Männern und Frauen ein kleines Begrüßungs- oder Abschiedsküsschen an der Tür des Hauses oder mit einer Begleitung gegeben wurde. Schmusen auf der Straße konnte eine Geldstrafe nach sich ziehen, die in der Höhe gestaffelt war - nach der Art der Zärtlichkeit vom Händchenhalten über das Küssen bis hin zu körperlichen Berührungen. Höchststrafe war eine Verhaftung. Im Wiederholungsfalle wurde sogar der Kopf kahlgeschoren.
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Bekleidung zu Bedeckung des Körpers galt als selbstverständlich und war ebenfalls geregelt – für Frauen strikter als für Männer. Mädchen, die höhere Schulen besuchten (das war bis in die 1960er Jahre eher selten), durften beispielsweise im Chemieunterricht die Ärmel von Kleid oder Bluse nur bis zum Ellenbogen hochkrempeln.
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In der Geburtsurkunde konnte für ein Kind "Mutter unbekannt" stehen: Immer dann, wenn eine (wie vorgeschrieben) kirchlich verheiratete Frau sich getrennt hatte, mit einem neuen Partner lebte und von diesem ein Kind bekam, erhielt der Nachwuchs den Nachnamen des angetrauten Mannes, da eine Scheidung nicht möglich war. Um solche Einträge zu verhindern, bestand die einzige Alternative darin, dass der tatsächliche Vater des Kindes es als "Kind einer unbekannten Mutter" registrieren ließ.
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Frauen, die nachts allein spazieren gingen, liefen Gefahr, als Prostituierte angesehen und auf die Polizeiwache gebracht zu werden, bis ein ihr familiär verbundener Mann (Ehemann, Vater oder naher Verwandter) sie abholte und dabei begründete, aus welchem Grund sie nachts allein unterwegs war.
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Krankenschwestern durften nicht heiraten oder sie mussten ihren Beruf aufgeben. Lehrerinnen brauchten eine Genehmigung des Bildungsministeriums, um zu heiraten. Der amtlichen Genehmigung ging eine Überprüfung der künftigen Mannes voraus. Er musste sich "gut benehmen" und "ein Einkommen haben, das dem der Lehrerin entspricht".
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Auch der Zeitvertreib eines Kartenspiels bei einer langen Zugfahrt galt als verpönt und konnte untersagt werden, denn alles, was nach Glücksspiel aussah, noch dazu in der Öffentlichkeit, galt als Gefährdung von Sitte und Moral.
Teil 1 von "50 Jahre Nelkenrevolution - Geschichten hinter der Geschichte"
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 2
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 4