Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 8: Die Ginsterfrauen: verschwiegene Sklavenarbeit
In einem alten englischen Buch wurden sie beiläufig erwähnt, die Gorse Women, "Ginsterfrauen”. Weitere Recherche brachte an den Tag: Auch in Portugal gab es diese hart arbeitenden Frauen, aber dieser Teil der portugiesischen Sozialgeschichte wurde lange systematisch verschwiegen. Diese Ginsterfrauen, im Portugiesischen carquejeiras genannt, schleppten in Porto riesige Bündel von Stechginster, und zwar vom Schiffsanleger am Douro hinauf in die Oberstadt, wo das trockene Gestrüpp zum Befeuern der Öfen in Werkstätten, Backstuben, Tascas und herrschaftlichen Häusern benötigt wurde. Was unspektakulär klingt, sicherte jedoch das wirtschaftliche Überleben vieler Familien, allerdings auf gnadenlose Weise, und man darf es ohne Übertreibung als Sklavenarbeit bezeichnen.
Foto aus dem RTP-Dokumentarfilm Carquejeiras - As Escravas do Porto
Durch carqueja, Stechginster, aus dem seit Menschengedenken Tees und Heilmittel gemacht werden, kamen die Frauen zu der Bezeichnung, unter der sie ihre ganz und gar nicht gesunde Arbeit taten. Stechginster wächst in Hülle und Fülle im Norden und im Zentrum der Iberischen Halbinsel. Auch das Schneiden des widerspenstigen Strauchwerks und das Einsammeln der Ernte war Frauenarbeit: Dafür waren carquejeiras da serra zuständig. Der geschnittene Ginster wurde auf Ochsenkarren an den Fluss gebracht, dort auf die vom Weintransport bekannten Rabelo-Boote verladen, die den Douro hinunterfuhren und den billigen Brennstoff nach Porto brachten. In der Morgendämmerung entluden die Männer, die auf den Booten arbeiteten, die Fracht am Anleger. Die carquejeiras kamen dazu, ordneten die Ginsterzweige nach Form und Größe. Diese Arbeit verlangte große Sorgfalt, denn die Zweige mussten so sortiert werden, dass sie für den Weitertransport in stabile Ballen gebündelt werden konnten, die unterwegs nicht auseinanderfielen.
Körperliche Schwerstarbeit für Frauen
Nach dem Sortieren verschnürten die carquejeiras die Ginsterzweige zu Ballen: Sie banden ein Bündel in der Mitte zusammen und befestigten es an ihrem Kopf mit einem weiteren Band, das von hinten um die Stirn gelegt wurde. Ein Stück dickes Sackleinen (serapilheira) milderte das Stechen des trockenen Holzes auf dem Körper. Dann trugen die Frauen ihre raue Last auf dem gebeugten Rücken nach oben. Dabei fiel das Bündel aufgrund der Menge an Reisig oft so weit über den Körper, dass die Frau kaum erkennbar war, die den Ginster in die Stadt schaffte: Bis fünfzig Kilo pro Fuhre, nur mit der Kraft ihres Körpers. Manchmal konnte man ahnen, dass es sich um eine junge Frau handelte, wenn sich zusätzlich zur Tragelast noch kleine Kinder an ihre Röcke klammerten. In Porto fielen die carquejeiras allerdings auch dann ins Auge, wenn sie nicht mit Ginsterbündeln beladen waren: Das Schleppen solcher enormer Lasten tagein tagaus verursachte mit der Zeit anatomische Fehlstellungen an Rücken und Beinen der Frauen.
Eine Ginsterfrau beim Schleppen der Reisigbündel (Foto: Arquivo Distrital do Porto)
Als grausamster Teil dieser Fron ist allerdings der Transportweg zu bewerten, eigentlich keine Straße, sondern eine Rampe: Vom Flussufer nach oben gelangten die carquejeiras über einen rund 220 Meter langen Weg vom Kai nahe der Ponte D.Luís, der eine geradezu mörderische Steigung aufweist, die auf den ersten hundert Metern 27 Prozent beträgt, danach 21 Prozent - so werden 42 Höhenmeter überwunden.
Die Rampe der Ginsterfrauen in alten Zeiten (Foto: Monumentos Desaparecidos) Der steile Hang heute von oben gesehen (Foto: oportpencanta)
Lasttiere waren auf diesem steilen Hang nicht einsetzbar: Auf dem unebenen, mal aus breiten, mal aus kleinen Steinen unregelmäßig gepflasterten Grund wären ihre Hufe weggerutscht. Die Frauen hingegen überwanden die Strecke. Sie liefen den Weg im Zickzack, um die Steilheit zu entschärfen. Und die carquejeiras gingen zumeist barfüßig. Einerseits war ihre Armut so groß, dass sie keine Schuhe besaßen, andererseits fühlten sie sich sicherer mit dem Gefühl, dass ihre geschundenen Fußsohlen sich an die Unebenheiten anpassen konnten.
Es gab viele Abnehmer für das trockene Holz entlang des Douro, und viele Transportwege waren ohne besondere Schwierigkeiten zu Fuß oder mithilfe von Karren zu bewältigen. Nicht so dieser Aufstieg in die Oberstadt. Und es ging hinauf, dann wieder hinab, sodann mit einer neuen Fuhre wieder hinauf und das über viele Stunden, jeden Tag, über viele Kilometer. Einige Frauen übernahmen die Arbeit von ihren Müttern, wenn diese nicht mehr in der Lage waren, die Last zu schleppen. So kam es, dass mehrere Generationen dieser Ärmsten der Armen in der Nordmetropole an das Dasein als “Ginsterfrau” gefesselt war. Die letzte von ihnen verstarb erst vor wenigen Jahren.
Die bürgerliche Gesellschaft kümmerte das Elend wenig
Diese Arbeit nahm ihren Anfang im 19. Jahrhundert. Damals war Porto durch die liberale Revolution von 1820 geprägt und entwickelte sich rasch. Mit der industriellen Revolution war Porto nach und nach zur Stadt der Arbeit geworden, in der aber auch eine bedeutende Bohème lebte.
Schwerstarbeit, soziales Leid und auch Kinderarbeit passten nicht zum Bild der dynamischen, modernen Stadt. Niemand sprach über die Arbeit der carquejeiras, niemand kümmerte sich um sie. Dieselbe Gesellschaft, die den Fortschritt predigte, verschloss die Augen vor dem sozialen Elend. Statt sich um dieses Schicksal zu kümmern, wurde den Frauen zeitweise verboten, sich in der Stadt zu bewegen.
Es gelang immer wieder, dieses Schweigen zu brechen, doch ohne dauerhaften Erfolg: Vor knapp 100 Jahren gab es erstmals Versuche, die Geschichte aufzuarbeiten und bekannt zu machen. Ein Verband zur sozialen Selbsthilfe, die Liga Portuguesa da Profilaxia Social, strebte 1928 eine politische Aufarbeitung und Verbesserung der Lebenssituation der Ginsterfrauen an, um die Arbeit dieser "entehrten, schäbigen und zerlumpten" Frauen zu unterbinden.
Doch was zuvor in den Jahren nach dem Ende der Monarchie nicht gelungen war, blieb nach dem Ende der Ersten Portugiesischen Republik ab 1926 erst recht unter dem Mantel des Schweigens verborgen: Der Estado Novo hatte kein Interesse an sozialen Missständen und Verwerfungen, die die Vorstellung des vom Staat propagierten glücklichen Leben der Familien verdunkeln konnte.
Im Jahr 1930 kam ein Reporter der Lissabonner Zeitung O Século nach Porto, um über das Leben abseits der Boulevards und Prachtbauten zu berichten. Er entdeckte die carquejeiras und schrieb: "Die Unglücklichen ziehen mit ihren riesigen Bündeln auf dem Rücken, keuchend und schnaubend, den Hang hinauf. Ich beobachte die endlose Tortur des quälenden Aufstiegs." Der Journalist beobachtete, wie die Frauen etwa alle zwanzig Meter das Bündel abluden und Kräfte sammelten, bevor es weiterging, und er nannte das, was er sah, beim Namen: “Sklavenarbeit.” Auch diese Kritik hatte keinen Nachhall und war bald wieder vergessen. Der Arzt und Maler Abel Salazar, Oppositioneller des Estado Novo, verlor seine Stelle und sah viele seiner Werke zensiert – auch Zeichnungen über das Leben der Ginsterfrauen. Zu den jüngeren literarischen Widmungen gehören Verse der in Porto geborenen Dichterin Sofia de Mello Breyner.
Ein Denkmal für die geschundenen Ginsterfrauen
Inzwischen hat der Rat der Stadt Porto diesen Höllenweg umbenannt, er heißt nun, den Arbeiterinnen gedenkend, Calçada das Carquejeiras. Heute gehen dort Spaziergänger entlang – doch egal, ob aufwärts oder abwärts: Es sind nicht viele, die sich trauen, mit vorsichtigen Schritten den Hang zu überwinden. Seit 2020 erinnert die Statue einer carquejeira an diesen Beruf, denn in diesem Jahr gelang es einer Bürgerinitiative nach jahrelangem Ringen, ein Denkmal aufzustellen für diese Frauen in Porto, deren Tätigkeit für das Leben und Wirtschaften in der Nordmetropole über Generationen hinweg überlebenswichtig war.
Das Denkmal für die Ginsterfrauen Portos (Foto: oportpencanta)
Die Stadtviertel – oder besser: Armenviertel,, in denen die ‘carquejeiras’ lebten, die sogenannten ‘ilhas’, max. 20 qm kleine, einstöckige Häuschen in engen Gassen mit einem gemeinschaftlichen Sanitärraum, gebaut im 19.Jahrhundert, um dem Zuzug der Menschen in die Großstadt Herr zu werden, wurden zwischenzeitlich saniert und in preiswerten, ordentlichen Wohnraum umgewandelt. In jüngster Zeit kommen immer mehr private Investoren, die aus den ‘ilhas’ Touristenunterkünfte machen.
Ende 2022 erschien ein ausführliches Buch über die carquejeiras. Es ist die schriftliche, ausführliche Version des Dokumentarfilms “Carquejeiras – As Escravas do Porto” der Historikerin und Filmemacherin Arminda Deusdado. Dort kommen u.a. Töchter und Enkelinnen der Ginsterfrauen zu Wort und lassen die Lebenswirklichkeit ihrer Vorfahren in Bildern wiederauferstehen:
Am Ende des Films weist ein Historiker darauf hin, das geschilderte Schicksal beschränke sich nicht allein auf die Ginsterfrauen. Andere manuelle Transporte, etwa von Kohle oder Fisch, wurden ebenfalls von Frauen ausgeübt, deren Lebensbilder (bisher) weder eine Lobby, noch ein Gedenken fanden.
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 1
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