Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 14: Warum eigentlich "Nelkenrevolution"?
Dieses Datum vor 50 Jahren, o dia inicial inteiro e limpo, der Tag, an dem alles neu und bereinigt gewesen sei, wie die Dichterin Sophia de Mello Breyner schrieb, war bereits im vergangenen Jahr Auftakt zur Feier des halben Jahrhunderts im eigentlichen Jubiläumsjahr - Auftakt für politisches und gesellschaftliches Gedenken an den Neubeginn, der nach einer Blume benannt ist. Woher aber kam die Nelke, die der Revolution ihren Namen gab?
Geschichten verselbständigen sich und so gibt es mehrere Varianten, wie es zu Präsenz und Symbolik der Blume an jenem Tag in Lissabon kam: Zunächst waren Nelken weit verbreitet, sie galten als preiswert und waren daher die meistverkauften Blumen.
Laut einigen Quellen waren die Nelken zur Dekoration einer für diesen Tag geplanten Hochzeitsfeier gedacht, die aufgrund der politischen Unruhen aber verschoben wurde. Eine andere Version spricht von einer Blumenzüchterfirma, die eine Lieferung roter Nelken für den Export bereitstehen hatte, welche aber das Land nicht verlassen konnte, weil der Flughafen geschlossen war.
Die dritte Geschichte hat mit den Blumenständen zu tun, die auf den großen Plätzen Lissabons zahlreich vorhanden waren. Das Militär hatte mehrere öffentliche Plätze in der Stadt für viele Stunden besetzt, eben auch solche, auf denen die Blumenhändler gewöhnlich ihre Stände aufbauten. Da die Revolution friedlich verlief, sei es wahrscheinlich, dass die Blumenhändler den Militärs die Nelken als Zeichen des Dankes schenkten.
Wandgemälde an einer Schule in Tavira (Foto: Facebook, Martin Tretbar-Endres)
Die wahre Geschichte der Nelken
Vermutlich ist in all diesen Geschichten ein gewisser Grad an Wahrheit, doch als wirklich verbindliches und belegbares Zeugnis für die Verteilung der ersten Nelken jenes Revolutionstages gilt Celeste Martins Caeiro, damals 40 Jahre alt und Angestellte eines Restaurants namens Franjinhas, das als Lissabons erstes Selbstbedienungrestaurant bekannt war und an jenem 25.April 1974 den ersten Jahrestag seines Bestehens feiern wollte.
Die Frau, die der Nelkenrevolution zu ihrem Namen verhalf: Celeste Martins Caeiro. Heute ist sie 90 Jahre alt.
Celeste lebte in ärmlichen Verhältnissen, teilte sich ein gemietetes Zimmer im Stadtviertel Chiado mit ihrer Mutter und ihrer Tochter. Der Vater hatte die Familie verlassen, so war Celeste für den Unterhalt der Familie zuständig. Das dafür notwendige Geld verdiente sie in eben jenem Restaurant in der Rua Braancamp, die von der Praça Marquês de Pombal in südliche Richtung abzweigt.
Zur Feier des ersten erfolgreichen Geschäftsjahres wollte der Eigentümer des Franjinhas den weiblichen Gästen Blumen und den männlichen Besuchern ein Glas Portwein schenken. Doch der Tag begann bekanntlich anders als geplant: Auf der Straße fand eine Revolution statt. Das Restaurant hielt seine Türen geschlossen. Der Chef schickte seine Angestellten wieder nach Hause und gab ihnen die Nelken mit auf den Weg, da er sie nicht an Gäste verteilen konnte und sie sonst verblüht wären.
Celeste Caeiro war 40 Jahre alt und hatte keine Ahnung, dass sie für immer in die portugiesische Geschichte eingehen würde.
Auf dem Rückweg nach Hause nahm Celeste die Metro und fuhr in Richtung Chiado. Sie wohnte in einem Haus im fünften Stock gegenüber den Armazéns do Chiado. Als sie den U-Bahnhof verließ, sah sie auf der Straße die Panzer der Revolutionäre. Da die meisten Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau wussten, was sich in der Hauptstadt und im Land abspielte, fragte Celeste einen Soldaten, was los sei.
Er antwortete: "Wir fahren ins Quartel do Carmo (die Carmo-Kaserne), um Marcelo Caetano zu verhaften. Das ist eine Revolution." (Caetano war seit 1968 Portugals Premierminister.) Neugierig fragte Celeste ihn, ob sie schon lange dort seien. „Seit 3 Uhr morgens“, antwortete ein Soldat, der sie um „eine Zigarette“ bat. „Ich hatte keine und es tat mir leid, ich habe überall nachgesehen, ob etwas offen war, um ihnen etwas zu essen zu geben, aber es gab nichts. Also nahm ich eine Nelke heraus und gab sie ihm, es war das Einzige, was ich hatte. Sie war rot, aber ich hatte auch weiße Nelken. Er hat sie genommen und steckte sie in den Lauf seines Gewehrs, was ich wunderschön fand. Dann nahm ich eine andere und gab sie einem anderen Soldaten, der sie auch in den Lauf steckte. Die Leute denken, dass ich es war, der die Nelken auf die Gewehre gesteckt hat, aber nein, sie waren zu hoch", erinnerte sich Celeste in einem Interview mit Novas de Eixo Atlántico.
Die Revolution brachte Celeste kein Glück
Celeste ging weiter bis zur Basílica de Nossa Senhora dos Mártires an der Rua Garrett und schenkte jedem, den sie traf, eine Nelke. Irgendwann entstand dann das bis heute ikonische Foto einer Nelke im Gewehrlauf. Die Lebensumstände von Celeste allerdings haben sich durch die Revolution nicht sehr geändert: Sie brachte ihr kein Glück, ja noch nicht einmal Einladungen zu den offiziellen Feierlichkeiten zum 25. April ein.
Ihr Leben wurde vielmehr von der Tragödie des großen Feuers im Chiado im August 1988 geprägt. Celestes gemietetes Zimmer gegenüber den Armazéns do Chiado wurde von den Flammen erfasst, ihr blieb nur wenig Zeit, ihre Habseligkeiten zu retten. Celeste sagt, dass sie „alles verloren“ hat, aber was sie am meisten bedauert, „sind die Fotos“ eines ganzen Lebens. Heute lebt sie - mit knapp 91 Jahren - von einer mageren Rente von nur 400 Euro im Bezirk Leiria.
Immerhin hat der Staatspräsident sie nach einer Anfrage des Senders RTP mit einer besonderen Auszeichnung geehrt. Und die PCP im Stadtrat Lissabon hat vorgeschlagen, ihr endlich eine „gerechte Ehrung“ zukommen zu lassen und ihr die Verdienstmedaille der Stadt zu verleihen.
Celestes großer Wunsch: am heutigen Jubiläumstag in Lissabon mitfeiern
Wie auch der Diária de Leiria berichtet, leidet Celeste Martins Caeiro mittlerweile unter schweren Seh-, Hör- und Gehbehinderungen. Sie lebt heute bei ihrer Tochter und ihrer Enkelin in Alcobaça (Bezirk Leiria) und will nicht mehr über die Revolution sprechen.
Ihr großer Wunsch: Fünfzig Jahre nach dem 25. April 1974 möchte sie am heutigen Donnerstag mit einer Nelke auf der Brust über die Avenida da Liberdade laufen. Aber ihre Enkelin Carolina Caeiro Fontela hat Zweifel: „Ich weiß nicht, ob ihre Gesundheit es zulässt, und dafür müssten wir einen Rollstuhl haben. Den hat uns noch niemand besorgt, denn in all den Jahren hat niemand etwas für meine Großmutter getan“, beklagt sie. Zum Enthusiasmus ihrer Großmutter für die Revolution gesellt sich nun die Wut ihrer Enkelin darüber, dass „keine Organisation ihr jemals die Anerkennung zuteil werden ließ, die sie verdient, dass niemand jemals wissen wollte, was sie im Leben durchgemacht hat“.
Und sie fügt hinzu: „Bei den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag wurde sie von allen aufgefordert, Interviews zu geben, sie fuhr von einem Radiosender zum anderen, von einem Fernsehsender zum anderen, mit der U-Bahn, weil niemand kam, um sie abzuholen. Sie wurde sehr müde und hatte bald darauf einen Schlaganfall", sagt Carolina und bedauert, dass ‚sich am 26. April niemand mehr um Celeste kümmerte‘. Sie lebe „mit einer Rente, die es ihr nicht erlaubt, sich ein Hörgerät oder einen Rollstuhl zu kaufen“. Aber, so fügte ihre Enkelin hinzu, „am Donnerstag, wenn sie das Fernsehen einschaltet, wird sie eine Nelke auf der Brust tragen, bei den Paraden und in der Versammlung der Republik“.
Glücklicherweise war es möglich, Celeste Martins Caeiro ihren Wunsch zu erfüllen:
Zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin feierte sie gemeinsam
mit Zehntausenden den 25. April 2024 in Lissabon.
Foto: Paula Guerreiro, "Lisboa antiga"/Facebook
Das Ende der längsten Diktatur Europas
Mit dem 25. April 1974 endete die längste Diktatur im Europa des 20.Jahrhunderts. Celeste Caeiro, die in der kommenden Woche ihren 91.Geburtstag feiert und häufig Celeste dos Cravos ("Celeste der Nelken") genannt wird, erinnerte sich in einem Interview vor fünf Jahren: “Wenn ich geraucht hätte, hätte ich Zigaretten verschenkt, und wenn das Franjinhas nicht sein Einjähriges gefeiert hätte, dann hätte es keine Nelken gegeben und heute, ohne all diese Umstände und Zufälle, hätten wir vielleicht ein G3-Gewehr als Symbol anstelle einer roten Blume.” So symbolisiert eine Nelke den Geist dieses Tages und dieses Neubeginns, der nach 48 Jahren das diktatorische Regime stürzte und auch den Kolonien Angola, Mosambik, Guinea, Kap Verde, São Tomé und Príncipe und Timor die Freiheit schenkte und es diesen Völkern möglich machte, ihren eigenen Weg als unabhängige Nationen zu gehen.
(ergänzt mit eigener Recherche)
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 1
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 13