Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 7: Von der Salazarbrücke zur "Ponte 25 de Abril"
Eigentlich beginnt die Geschichte der Brücke über den Tejo in Lissabon bereits vor knapp 150 Jahren, in einer Zeit großer infrastruktureller Neuerungen: Die wichtigsten Straßen der Hauptstadt waren in den vorhergegangenen Jahren mit Gaslaternen ausgestattet worden, die erste Eisenbahnlinie verband Lissabon mit Carregado, Santarém, Vila Nova de Gaia und mit der spanischen Grenze; die Strecke nach Porto stand vor der Fertigstellung. Innerhalb der Metropole sorgte die Pferdebahn als Vorläufer der elétricos für kurze Wege. Im Alentejo fuhren Züge von Beja, Setúbal und Estremoz – sie endeten in Barreiro am südlichen Tejoufer. Von dort aus ging es nur mit der Fähre weiter.
Die damals einzigen Brücken über den Tejo (für die Eisenbahn bei Constância und für andere Fahrzeuge nahe Abrantes) lagen rund 130 Kilometer flussaufwärts, wo der Fluss schmaler ist als am Mar da Palha, der Bucht zwischen Hauptstadt und Mündung. Der Ingenieur Miguel Correia Pais legte 1876 die Vision eines Viadukts zwischen dem nordöstlichen Rand der Hauptstadt und Montijo am gegenüberliegenden Ufer vor. Es sollte eine Eisenbahnbrücke werden – aber dort, wo Züge fuhren, könne es auch eine zweite Spur für andere Fahrzeuge geben, meinte Pais. Doch sein Projekt blieb Theorie, genau wie alle Vorschläge für Brücken in den folgenden sechs Dekaden und auch Projekte für Tunnel durch das Flussbett.
Der Aufbruch zu neuen Ufern ließ auf sich warten. Die Bürokratie, das immense Ausmaß des zu überbrückenden Wassers und nicht zuletzt die Kosten sorgten dafür, dass die Verbindung zwischen dem Süden und der Hauptstadt ein kühner Traum blieb. Alentejo und Algarve waren vom Herzen des Landes abgetrennt, denn auch wenn in den folgenden Jahrzehnten flussaufwärts neue Brücken gebaut wurden – das Tejodelta schien als natürliche Grenze unüberwindlich – a Outra Banda (das andere Ufer) blieb eine Welt für sich.
Blick auf den Tejo in Lissabon - ohne Brücken
Privat finanziertes Prestigeobjekt des Estado Novo
1959 entschloss sich der Estado Novo zu einem Prestigeprojekt und schrieb eine „Brücke über den Tejo in Lissabon“ international aus. Den Zuschlag bekam die United States Steel Corporation - und die Herkunft der Erbauer begründet die Ähnlichkeit des Viadukts mit der Golden Gate Bridge, dem Wahrzeichen San Franciscos.
Im November 1962 begannen die Arbeiten an dem Bauwerk, das sich auf knapp 2.278 Meter über den Tejo streckt und am 6. August 1966 Jahren eingeweiht wurde, übrigens gleich mit dem ersten Verkehrsstau der bis heute chronisch überlasteten Brücke, denn viele Autobesitzer (damals gab es landesweit 400.000 Privatwagen) wollten Teil des feierlichen Ereignisses sein. Millionen TV-Zuschauer in ganz Europa sahen die Eröffnung der damals größten Brücke des Kontinents – und bekamen einen höchst seltenen Einblick in das Leben des damals abgeschotteten Randstaates Portugal.
Fotos aus dem Observador von den Bauarbeiten (links und Mitte). Rechts die feierliche Einweihung der Ponte Salazar am 6. August 1966
„Die Eisenbahn war die treibende Kraft für jeden Brückenbau in Portugal“, erklärt der Historiker Luís Rodrigues, der sich mit der Geschichte der Brücke beschäftigt hat: „Ohne sie wäre Portugal ein anderes Land, denn Leben und Wirtschaften, wie es für die Entwicklung des Landes nötig ist, fand bis vor dem Brückenbau stets nördlich des Tejo statt.“ Die Tejobrücke, die nach der Eröffnung und bis zur Nelkenrevolution ‘Ponte Salazar’ hieß, war auch das erste mit privaten Krediten finanzierte Großunternehmen des Landes, nachdem Finanzminister António Pinto Barbosa sich geweigert hatte, das teure Vorhaben im Staatshaushalt zu berücksichtigen: Nach heutiger Kaufkraft gerechnet, kostete die Brücke € 800 Millionen (die Golden Gate Bridge würde jetzt umgerechnet etwa € 530 Mio. Kosten). Durch die Unterstützung von Vermittlern kam es zu einem vor allem von US-Geldgebern gestützten Kredit mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren. Tatsächlich war das Viadukt bereits kurz nach der Nelkenrevolution von 1974 abbezahlt.
Brückenschlag in eine neue Zeit
Luís Rodrigues sagt, die Brücke sei „also ein immens politisches Bauwerk“ – aber auch ein wirtschaftlicher Anstoß: Die portugiesische Handelsmarine erlebte einen Aufschwung durch den Auftrag, für den Brückenbau 80.000 Tonnen Stahl aus den USA an den Tejo zu transportieren.
Der Bau der Ponte 25 de Abril erwies sich als Brückenschlag in eine neue Zeit: Bereits in den ersten Tagen nach der Eröffnung überquerten rund 50.000 Fahrzeuge die Brücke. Zur Bauzeit rechneten die Verantwortlichen damit, im Jahr 1985 ein Optimum von einer Million Fahrzeugen erreicht sein werde, die pro Jahr über die Brücke fahren – es wurden sechzehn Mal so viele; heute überqueren an einem Tag über 300.000 Autos das Viadukt – ein Vielfaches der Kfz-Zahl, die über die 1998 eröffnete Ponte Vasco da Gama zwischen Montijo und den nordöstlichen Vierteln der Hauptstadt fahren.
Foto: H. Bilawer. Aufgenommen vom Balkon des Westturms des Gebäudekomplexes am Terreiro do Paço
Die Regionen auf der Südseite des Tejo erlebten „eine wahre Explosion in ihrer Entwicklung“, bestätigt das Rathaus von Seixal. Der Ort, sowie Almada, Barreiro, Sesimbra, Palmela und Setúbal verzeichneten in wenigen Jahren ein Bevölkerungswachstum zwischen elf und zwanzig Prozent durch Zuzug. Gleichzeitig erklären die Rathäuser der genannten Orte, fast jeder zweite Arbeitsplatz sei von ökonomischen Verflechtungen mit der Hauptstadt abhängig. Der Effekt der direkten, Zeit und Aufwand sparenden Verbindung wurde bis in die Algarve spürbar, wo dreizehn Monate vor der Einweihung der Brücke der Flughafen Faro eröffnet worden war. Nun hatte die Region zwei wichtige Tore als Verbindung zur Welt.
Portugal ist ein Land mit einem relativ kleinen Binnenmarkt, sodass eine gute Verkehrsinfrastruktur nötig ist, um ein Netz von Zulieferunternehmen entstehen zu lassen. Bereits seit Anfang der 1950er Jahre betrieb der diktatorisch geführte Ständestaat Portugal die Förderung der Industrie und erdachte so genannte Sechsjahrespläne für die Wirtschaft, die sich zunächst auf die wirtschaftsnahe Infrastruktur konzentrierte, wozu auch das Verkehrswesen zählt. Ab 1965 flossen vier von zehn Escudos (die damalige Währung) in verarbeitendes Gewerbe, Handwerk und Industrie. Mit der Anbindung des Südens machte die Industrialisierung in dieser Zeit große Fortschritte. Ziel der Regierung Salazar war eine importsubstituierende Industrialisierung, um wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen, was aber unter anderem an einer geringen Binnennachfrage und der niedrigen Kaufkraft scheiterte.
Die große Wende: Portugals Beitritt zur Europäischen Freihandelszone
Eine Wende trat ein, nachdem Portugal 1960 der Europäischen Freihandelszone (EFTA) beigetreten war. Diese Öffnung erwies sich als als vorteilhaft, weil sie erstmals ausländisches Kapital in großem Umfang in die portugiesische Wirtschaft brachte, die sich in der Folge stärker an der internationalen Nachfrage als an den Bedürfnissen des Binnenmarktes orientierte. Zu den Anreizen für ausländische Investitionen gehörten vor allem Metallindustrie, Papierherstellung, Petrochemie und Transportmittel und schließlich der sich entwickelnde Tourismus – die drei letztgenannten Wirtschaftssparten prosperierten vor allem südlich des Tejo und entwickelten sich dank der neuen Direktverbindung in die Hauptstadt rasch.
Das Schiffswerk Setanave entstand in Setúbal sowie ein Industriepark in Sines. Ab 1968 wuchs die Wirtschaft im Süden des Landes um knapp sieben Prozent jährlich. Ausländische Unternehmen siedelten sich in Portugal an und da ihre Produktion zumeist Sparten abdeckte, die zuvor nicht durch heimische Produzenten bedient wurden, wurden keine inländischen Unternehmen verdrängt und dabei gleichzeitig neue Arbeitsplätze geschaffen. Doch wie im übrigen Land beschränkten sich diese Impulse vor allem auf Küstenstandorte – im Süden profitierten die Gegenden um Almada, Setúbal und Sines sowie die Algarve. Das Hinterland hatte in der Folge noch stärker mit Abwanderung von Arbeitskräften in die sich nun entwickelnden Gebiete zu kämpfen.
"Regionaler Ausgleich" nach dem 25. April 1974 und Förderung durch die EU
Die Nelkenrevolution von 1974 war nicht die einzige Zäsur, die diese Entwicklung stocken ließ – der Ölpreisschock des Jahres 1973 hatte schon zuvor negative Auswirkungen. Um dem entgegenzuwirken, verfolgten die Regierungen nach der Nelkenrevolution eine Strategie des regionalen Ausgleichs, indem die „peripheren Räume sich primär durch Förderung des eigenen Potentials” entwickeln sollten, wie es in einem Papier von 1977 heißt. In den Distrikten Évora, Beja und Faro entstanden Industrieparks; gleichzeitig wurde der Tourismus gefördert. Die Anbindung des Südens an die Hauptstadt habe „auch zur weitreichenden Entwicklung der Algarve beigetragen und sie aus einer instabilen wirtschaftlichen Lage befreit.“ Ohne die infrastrukturelle Erschließung der Region hätte sie kaum an Förderprogrammen (unter anderem der EU) teilhaben können, die dazu beitrugen, dass das Bruttoinlandsprodukt der Algarve von weniger als einem Drittel des europäischen Durchschnitts auf den heutigen Stand von rund achtzig Prozent gewachsen ist.
Fotos: C. Zacker. Links im Verkehr auf der Ponte 25 de Abril mit Blick auf Cristo Rei, rechts Blick auf die Tejo-Mündung
Der Traum des Ingenieurs Miguel Pais von einer Brücke, die sowohl Zügen als auch Kraftfahrzeugen dient, erfüllte sich erst 1999, als die ‘Ponte 25 de Abril’ um einen Gleiskörper unterhalb der Fahrbahn erweitert wurde. Die Fähren kreuzen noch immer den Tejo, wenngleich längst glänzende Katamarane, zum Teil auf Werften in Deutschland gebaut, die Dampfer abgelöst haben, die „über das friedliche Gewässer gleiten, das sich vor meinen Augen ausbreitet. Die Schiffssirene ertönt, der Gischt sprudelt unter uns, während sich nebenan ein Boot dem Kai nähert, an Deck eine Art Meeresgott, der die Segel einholt“ wie der Dichter Fialho de Almeida 1893 die beschauliche Fahrt beschrieb.
Auf den 230 km, die der Tejo durch Portugal zurücklegt, stehen heute 16 Brücken. Für Lissabon wurde 2008 eine dritte Tejobrücke konzipiert, die dann der Wirtschaftskrise zum Opfer fiel. Ob sie je gebaut wird, ist ungewiss.
50 Jahre Nelkenrevolution: Geschichten "hinter der Geschichte" - Teil 8
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