Dieses Jahr begeht Portugal das 50. Jubiläum der Nelkenrevolution. Der friedliche Umsturz befreite das Land von der Diktatur und markiert gleichzeitig das Ende der letzten westlichen Kolonialmacht. Veranstaltungen dazu gibt es landesweit bereits zahlreich und bis 2026 kommen weitere dazu.
Die "Journalistin, Übersetzerin, Lektorin, Dozentin, Kulturvermittlerin" - wie sie sich selbst nennt - Henrietta Bilawer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit portugiesischer Kultur, Landeskunde und Historie; seit Ende Januar 2024 hat sie etliche "(Vor)Geschichten hinter der Geschichte" veröffentlicht.
Wir sagen Danke, dass wir diese Storys auf unserer Seite "Leben in Portugal" veröffentlichen dürfen.
Teil 15: Das Bild der Revolution
Manche Revolutionen entwickeln sich langsam, dauern Tage, Wochen, bis sie zu einem wie auch immer gearteten Ergebnis kommen. Andere geschehen über Nacht und sind nach Stunden vorbei, wie die Nelkenrevolution. Wer solche Ereignisse medial begleiten will, muss schnell und erfinderisch sein. Als Portugal am 25.April 1974 erwachte und die Ereignisse der Nacht langsam die Menschen erreichten, hatten insbesondere Fotografen und Kameraleute die nicht wiederholbare Möglichkeit, die portugiesische Zeitenwende auf Bilder für die Ewigkeit zu bannen, allerdings ohne Vorbereitungszeit.
Zwei aus einer Vielzahl von Fotografen und FIlmemachern, die während der ersten Tage das Bild der Nelkenrevolution festhielten.
links Alfredo Cunha, rechts José Carlos Nascimento -
Am 25. April und in den Tagen und Wochen danach gingen Journalisten und Fotografen mit der Kamera in der Hand auf die Straße. Sie besetzten das Filminstitut und die Zensurbehörde, filmten Besetzungen von Ämtern, bezeugten die Übernahme von Fabriken in Selbstverwaltung, das brodelnde Leben in den großen Städten und die langsam erwachenden Dörfer. Es gab ein ganzes Land zu zeigen.
Der im Estado Novo oppositionelle Filmemacher José Nascimento war gebeten worden, zu erkunden, wie der Putsch ablaufen würde, von dem man wusste, dass er in Vorbereitung war. "Wir wussten, dass das Radio Grândola Vila Morena spielen würde und dass das der Startschuss sein würde". In der Nacht des 24. April ging Nascimento hinaus, um nach Zeichen zu suchen. In Lissabon war es ruhig. "Ein paar Kollegen und ich liefen bis zwei Uhr morgens herum, aber erst spät sahen wir Bewegung, vor allem in der Nähe des Rádio Clube Português.” Über die Mikrofone dieses 1931 gegründeten Radiosender wurde am Morgen des 25.4.1974 die erste Mitteilung der aufständischen Militärs gesendet mit der Aufforderung, die Bevölkerung möge zu Hause bleiben und sich ruhig verhalten.
Mit der Filmkamera hautnah dabei
Die Filmemacher beschlossen, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Am 25.4. standen sie früh auf, besorgten sich in der Produktionsfirma ‘Telecine’ eine 16-Millimeter-Kamera und gingen zum Largo do Carmo. Dort, in unmittelbarer Nähe der Kaserne, in der sich die Nelkenrevolution schließlich entscheiden sollte, herrschte bereits ein großes Durcheinander. Ein anderer Filmemacher, António Cunha Telles, hatte im Radio die kurze Ansprache des Militärsprechers gehört, mit der die Bevölkerung um Ruhe gebeten wurde. Telles erinnerte sich später: Ich fuhr sofort zum Largo do Carmo. Ich hatte zufällig eine Filmkamera dabei und habe darauf gewartet, dass etwas Wichtiges passiert."
Auch der Filmemacher António Cunha Telles (1935-2922) - Foto links - war mit der Kamera auf der Straße. Gemeinsam mit dreizehn Kollegen produzierte er den Dokumentarfilm As Armas e o povo, in dem die Ereignisse festgehalten sind. Insgesamt zehn Teams waren für die Aufzeichnungen am 1. Mai 1974 unterwegs.
Die Atmosphäre war angespannt. Marcelo Caetano, der letzte Regierungschef des Estado Novo in der Kaserne, Salgueiro Maia, der Anführer der revolutionären Truppen, draußen.
"Salgueiro Maia sagte, dass er um drei Uhr das Feuer eröffnen würde", erinnerte sich Telles später. "Ich war in einem Café, ging hinaus: Auf der einen Seite stand die GNR und auf der anderen die Truppen von Salgueiro Maia. Als ich wieder reingehen wollte, war die Tür bereits geschlossen." Telles wartete und bewahrte die einzige Filmrolle, die er hatte, für einen entscheidenden Moment auf, den er selbst nicht kannte. Und der Moment kam. "Um drei Uhr beschloss Salgueiro Maia, anzugreifen, und im Gegensatz zu dem, was man später berichtete, wurde wirklich geschossen. Ich habe die Panzerfäuste gefilmt, die auf das Tor der Carmo-Kaserne abgefeuert wurden."
"Alles war ständig in Bewegung. Dinge passierten überall und es war sehr schwierig, auf dem Laufenden zu bleiben", erinnert sich Filmemacher José Nascimento. "Es gab dauernd Nachrichten mit unterschiedlichen Informationen. Und für jemanden, der Ereignisse filmen will, ist das das Schlimmste, was passieren kann. Man weiß nicht, was das Wichtigste ist, oder ob man ankommt und es schon vorbei ist. Und ob das Filmmaterial reicht.” Viele Aufnahmen wurden mit irgendwo organisierten Filmresten gemacht. Alles geschah mit halsbrecherischer Geschwindigkeit.
Ähnlich wie den filmenden Journalisten und Cineasten ging es den Kollegen, die mit einem Fotoapparat unterwegs waren. Der vermutlich bekannteste unter ihnen, Alfredo Cunha, war am Tag der Nelkenrevolution gerade mal zwanzig Jahre alt und arbeitete für die Zeitung O Século. Heute sagt Cunha, es habe damals erfahrene Kollegen mit sehr viel mehr Wissen und fotografischem Können gegeben, als er für sich selbst in Anspruch nimmt. Er sieht es als glückliche Fügung, mit seiner Kamera immer zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Cunha, von dem ich hier einige Bilder zeige, hat mit seinen Aufnahmen Geschichte geschrieben, indem er Geschichte fotografiert hat.
Aus Momentaufnahmen entsteht eine Filmproduktion - und der Sieg über die Zensur
An jenem 25.April 1974 ging es um die Momentaufnahme. In der Folgezeit erhob sich dann die Frage, wie sich der Fotojournalismus und das Filmemachen weiterentwickeln könne. Die Filmemacher begannen, sich zu organisieren. Am 29. April besetzten sie die Räume des portugiesischen Filminstituts und gründeten Produktionseinheiten. Der Filmemacher Cunha Telles erinnert sich an die Besetzung der Behörde für die Filmzensur: "Auch nach dem 25. April gab es noch Zensur. Ich wollte den Film Jaime von António Reis uraufführen und die Zensoren, die immer noch sehr eifrig waren, riefen mich an und sagten mir, dass ich das nicht dürfe."
"Ich schnappte mir ein paar Kollegen und am nächsten Tag besetzten wir zusammen mit anderen Genossen im Morgengrauen das Zensurbüro. Als wir eintraten, entdeckten wir einen geschlossenen Raum, aus dem wir einige Schreie hörten. Es waren die Sekretäre der Zensur, die sich dort eingeschlossen hatten, aus Angst, erschossen zu werden. Wir überredeten sie, die Tür zu öffnen, und erklärten ihnen, dass sie arbeitslos werden würden, weil die Zensur abgeschafft werde, dass sie aber ansonsten nichts zu befürchten hätten, weil niemand auf sie schießen würde."
Filmemacher António Cunha Telles wollte nicht nur selbst unzensiert drehen, er wollte auch zuvor verbotene Filme und ihre Macher rehabilitieren und allen zugänglich machen. Und er hatte ein besonderes Ass im Ärmel: Er besaß eine offizielle Kopie des Filmklassikers “Panzerkreuzer Potemkin” des russischen Regisseurs Sergej Eisenstein. "Ich hatte mit den Russen eine Vereinbarung getroffen, dass ich die Rechte ab dem Tag haben würde, an dem der Film offiziell in Portugal gezeigt werden konnte, darauf wartete ich."
Das Warten sollte nicht allzu lange dauern: Am 1. Mai feierte der Stummfilm aus dem Jahr 1925 am Kino Império in Lissabons Stadtteil Arroios seine glanzvolle Portugalpremiere. "Die Menschen waren auf der Straße, um den 1. Mai zu feiern, als an der riesigen Fassade des Kinos der Film begann. Es gab den größten Beifall, an den ich mich erinnern kann", so Telles.
In den folgenden Monaten mussten ebenso viele Fragen rund um das Funktionieren von Kino, Foto und TV gelöst werden wie parallel dazu neue Aufgaben entstanden. "Wir waren Vehikel, Multiplikator und Echo der Stimme des Volkes, der Kämpfe der Arbeiter und anderer, vor allem in multinationalen Unternehmen, die verschwunden waren, Verwaltungen, die über Nacht schlossen, Fabriken, die sich selbst überlassen worden waren. Es war das momentan mögliche Kino, eingebettet in diesen politischen Prozess", so der heute 77-jährige Dokumentarfilmer José Nascimento. Dieser Prozess verlief mit Höhen und Tiefen und ist nach Ansicht vieler Filmschaffender bis heute nicht abgeschlossen.